(…) man könnte auch sagen: die Politiker, die die soziale Spaltung vorantreiben – , rufen zur Geschlossenheit auf. Die Zeitenwende ist da (…)
Seite für Seite hat mich dieses Jahr wohl kein Buch mehr beschäftigt. Wochenlang wanderte es in der Wohnung von Ort zu Ort, es wurden einige Seiten gelesen, dann wieder weggelegt und doch immer wieder aufgenommen und weitergelesen. Dabei hat „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ von Ole Nymoen nur rund 100 Seiten. Darin argumentiert der Autor gegen Aufrüstung, Militarismus und eine vereinfachte Freund-Feind-Logik und dass Kriege immer den Interessen der Mächtigen dienen, während die breite Bevölkerung wenig davon habe. Für Nymoen gehören Krieg und Frieden untrennbar zusammen: Jeder Krieg werde im Frieden vorbereitet, und jeder Frieden folge einem Krieg. Soweit der Inhalt grob umrissen.
Er bleibt auch nach dem russischen Angriff auf die Ukraine pazifistisch und verweist darauf, dass sich viele Wehrpflichtige beider Seiten dem Kriegsdienst entziehen wollen. Nymoen kritisiert die Vorstellung, man müsse für „Sein Land“ kämpfen, unabhängig davon, ob man sich mit ihm identifiziere. Er argumentiert, es trenne Soldaten verschiedener Nationen weniger als beispielsweise von ihren politischen oder wirtschaftlichen Eliten.
Für seine Haltung erntet Nymoen viel Kritik, es wird ihm eine weltfremde Privilegiertheit vorgeworfen. Ein Kapitel widmet Nymoen dem Vergleich von Hitler und Putin und kritisiert, dass politische Debatten oft durch den Verweis auf den „absolut schlimmsten Fall“ verengt werden.
Muss man Ole Nymoens Position(en) teilen? Nein, zwischen seiner Position und „wir müssen kriegstüchtig werden“ gibt es noch sehr viel Raum. Man kann aber sicher seine Argumentation nachvollziehen. Warum sollte ich für sein Land kämpfen, dass sich für die meisten Menschen eigentlich nicht interessiert, solange sie nur produktiv sind. Kann es eine Gesellschaft überhaupt wert sein, für sie zu kämpfen, wenn es genügend Beispiele gibt, dass sie sich nicht um die Menschen in ihr kümmert? Wohnungslosigkeit, (Alters-) armut, Bildungschancen, staatlich geförderte prekäre Beschäftigungen gegenüber Wirtschaftsinteressen und sozialer Ungleichheit. Diese Debatte ist letztlich auch eine über Klassismus. Seine Argumentation mutet gleichzeitig aber sehr theoretisch an.
Er argumentiert u.a. dass es Falle eines Krieges keine persönliche Feindschaft zwischen ihm und einer ihn angreifenden Person geben werde. Es gehe ja eigentlich um die Interessen zweier Staaten. Demgegenüber könnte man sagen: In dem Moment, in dem jemand eine Waffe auf ihn richtet – aus welchen Gründen auch immer – wird es unweigerlich zu seinem persönlichen Problem. Solange es die Menschheit gibt, solange gibt es auch Konflikte, die mit Waffen ausgetragen werden. Die allerwenigsten Menschen wollten Teil dieser Konflikte sein. Außer Frage steht, dass eine Welt erstrebenswert ist, in der Waffen obsolet sind. Eine schöne Utopie. Nur wie erreicht man das praktisch? Erreicht man es, indem man Aggressoren Raum gibt, indem man zurückweicht? Wieviel ist man bereit, für eine solche Utopie zu investieren? Diese Fragen wird und muss jeder für sich selbst beantworten. Unsere grundsätzlich demokratische Gesellschaft ist nicht perfekt, aber es ist die beste die wir haben. Es ist gut, dass Ole Nymoen seine Position zu Papier gebracht hat. Ebenso gut ist es, dass er das straffrei tun kann, dass man offen darüber diskutieren kann. Dieses Buch löst sicher keinen der aktuellen Konflikte, es eröffnet aber eine notwendige Perspektive auf öffentliche Diskurse, nicht nur über die sogenannte Zeitenwende in Deutschland.